Die Gedanken sind frei? Nein: patentiert!

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Die MP3-Patente

Die MP3-Patente werden häufig als Beispiele für „positive“ Software-Patente genannt. Es wird argumentiert, daß hier eine besonders aufwendige Entwicklung verdientermaßen durch Patente geschützt werde.

In diesem Artikel wollen wir die wirtschaftsschädlichen Folgen von Software-Patenten am Beispiel der MP3-Patente exemplarisch aufzeigen. Dabei wird sich zeigen, daß der „verdiente Schutz einer aufwendigen Entwicklung“ bei MP3 nur scheinbarer Natur ist. Die MP3-Patente stehen vielmehr, was die Breite und Trivialität der Patentansprüche betrifft, anderen Software-Patenten – wie z.B. dem Fortschrittsbalken-Patent von IBM, dem Kontext-Menü-Patent von Philips oder dem Online-Geschenk-Patent von Amazon – in nichts nach. Das wirtschaftsschädliche Potential ist sogar im Gegenteil weitaus höher und macht sich bereits bemerkbar.

Schutz einer aufwendigen Entwicklung?

Wer sich mit dem MP3-Komprimierverfahren befaßt, hat zunächst einmal Grund zur Ehrfurcht angesichts der enormen Arbeit, die dahinter steht. Die gehörpsychologischen Erkenntnisse, die ein gezieltes Weglassen von Teilen der akustischen Information ermöglichen, basieren sicherlich auf vielen Jahren Forschungsarbeit. Es liegt der Schluß nahe, daß ein derartiger Aufwand ohne die Aussicht auf ein Patent – also ein 20jähriges Verwertungsmonopol – niemals finanziert worden wäre.

Hierzu sei bereits folgendes angemerkt:

  • Die Fraunhofer-Gesellschaft ist gemeinnützig und wird zu 40% aus Steuergeldern finanziert.
  • Die weltweite wissenschaftliche Forschung lebt vom freien Austausch von Wissen. Die Erkenntnisse der Fraunhofer-Gesellschaft bauen auf den Erkenntnissen anderer Forschungseinrichtungen auf.

Aber nehmen wir trotzdem einmal an, ein 20jähriges Verwertungsmonopol sei die angemessene Belohnung für denjenigen Teil des Aufwands, den die Fraunhofer-Gesellschaft selbst hatte. Dann wäre ein Patent, das diesen Aufwand gegen die Parellelentwicklung Dritter schützt, vielleicht angebracht.

Das ist aber leider nicht das, was die MP3-Patente abdecken.

Ein Blick auf die Patentschrift eines der MP3-Patente fördert den folgenden Hauptanspruch zutage:

1. Digitales Codierverfahren für die Übertragung und/oder Speicherung von akustischen Signalen und insbesondere von Musiksignalen, mit folgenden Schritten:

  • N Abtastwerte des akustischen Signals werden in M Spektralkoeffizienten umgesetzt.
  • die M Spektralkoeffizienten werden in einer ersten Stufe quantisiert,
  • nach Codierung mit einem Entropiecodierer wird die zur Darstellung aller quantisierten Spektralkoeffizienten erforderliche Bitzahl überprüft,
  • entspricht die Bitzahl nicht einer vorgegebenen Bitzahl, so wird die Quantisierung und Codierung in weiteren Schritten mit geänderter Quantisierungsstufe solange wiederholt, bis die zur Darstellung erforderliche Bitzahl die vorgegebene Bitzahl erreicht,
  • zusätzlich zu den Datenbits wird die benötigte Quantisierungsstufe übertragen und/oder gespeichert.

Dies mag sich jetzt für Laien sehr kompliziert und technisch anhören, bedeutet aber folgendes:

  • Man überlegt sich zuerst, wie viel Bandbreite/Speicherplatz man der Musik zur Verfügung stellen will.
  • Man komprimiert die Musik mit Hilfe altbekannter Verfahren (Spektralkoeffizienten, Entropiecodierung) und nimmt dabei einen Qualitätsverlust in Kauf, indem man einen Teil der Information einfach wegläßt (Quantisierung).
  • Man prüft, ob das Ergebnis die gewünschte „Größe“ hat. Falls nicht, wiederholt man die Komprimierung so oft mit einer anderen Qualitätsstufe, bis es paßt.

Die patentierte Idee besteht also darin, daß nicht die Qualität der Komprimierung vorgegeben wird und sich der benötigte Platz daraus ergibt, sondern daß man umgekehrt die Qualität an den zur Verfügung stehenden Platz anpaßt.

Aufwendig forschen – Trivialitäten patentieren

Von den gehörpsychologischen Erkenntnissen, deren Gewinnung etliche Mannjahre weltweiter Forschungsarbeit und viele Millionen Euro von Steuergeldern verschlungen hat, ist an dieser Stelle nicht die Rede. Dies kommt erst später, nämlich in Patentanspruch 11:

11. Verfahren nach einem der Ansprüche 1 bis 10, dadurch gekennzeichnet, dass nach den Erkenntnissen der Psychoakustik laufend Schwellen für die Hörbarkeit von Quantisierungsfehlern errechnet und die Spektralwerte so korrigiert werden, dass eine Hörbarkeit von Störungen ausgeschlossen ist.

Auch hier wird nicht eine aufwendige wissenschaftliche Entdeckung patentiert, sondern die Idee, die bereits als vorhanden vorausgesetzten Erkenntnisse der Psychoakustik in einem Komprimierverfahren zu nutzen. Ob man diese Idee als „naheliegend“ oder als „genial“ bezeichnen möchte, ist Ansichtssache. So oder so wird nicht die Frucht jahrelanger Arbeit durch ein Patent abgesichert, sondern eine Sache von Sekunden, nämlich die Idee zu einer mathematisch-logischen Handlungsanweisung.

Doch auch diese Überlegung ist eigentlich hinfällig, denn eine Patentverletzung liegt nicht erst dann vor, wenn jemand Anspruch 11 verletzt, sondern bereits bei Anspruch 1, und dort kann von aufwendigen Forschungsarbeiten nicht die Rede sein. Jeder Fachmann, der sich in völlig selbständiger Arbeit ein eigenes Musik-Kompressionsverfahren überlegt, geht ein hohes Risiko ein, Anspruch 1 zu verletzn.

Warum eigentlich?

Wie kommt es, daß ein Forschungsinstitut, das sicherlich einiges an tatsächlichem Aufwand in die Entwicklung von MP3 hineingesteckt hat, sich nicht diesen tatsächlichen Aufwand patentieren läßt, sondern Trivialitäten?

Eine Antwort lautet: wirtschaftliche Gründe. Ein Patent ist um so ertragreicher, je breiter seine Ansprüche greifen. Wer nicht nur von echten „Abkupferern“ Lizenzgebühren kassieren kann, sondern von jedem, der zufällig dieselbe Idee hatte, macht mehr Gewinn.

Eine weitere Antwort liegt in der Natur von Software-Entwicklungen: Der tatsächliche Aufwand benötigt keinen Patentschutz, denn er ist durch das Urheberrecht und durch die Möglichkeit, Quelltexte und ausführbaren Code zu trennen, perfekt geschützt. Wenn ein Software-Entwickler ein neues Kompressionsverfahren vermarkten will, bringt er eine Bibliothek auf den Markt, die das Verfahren implementiert – und zwar so schnell wie möglich. Die Jahre, die eine Patentanmeldung dauert, können darüber entscheiden, ob der Software-Entwickler auf dem Markt einen uneinholbaren Vorsprung hat, oder ob die Konkurrenz parallel und unabhängig etwas Ähnliches entwickelt und die Marktnische bereits besetzt hat.

Patente eignen sich auf dem Software-Markt nicht als Schutz für konkrete Entwicklungen, sondern nur als strategische Langzeitwaffen. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es daher aus Sicht des Patentanmelders sinnvoll, möglichst breite, triviale Ansprüche anzumelden, bei denen die Chance hoch ist, daß ein innovativer Konkurrent sie bei einer Parallelentwicklung unwissentlich verletzt.

Auch nichttriviale Software-Patente wären schädlich!

Auch bei den viel gelobten MP3-Patenten handelt es sich also – so aufwendig die Entwicklung des Verfahrens selbst gewesen sein mag – um Trivialpatente. Aber nehmen wir noch einmal kurz an, die Patente bezögen sich tatsächlich auf den aufwendigen Teil. Wären sie dann nicht ein wirtschaftsförderlicher Innovationsanreiz? Auch hier lautet die Antwort eindeutig „nein“.

MP3 ist durchaus nicht das beste Kompressionsverfahren für Musik. Ogg/Vorbis beispielsweise ist MP3 in jeder Hinsicht überlegen und außerdem nicht durch Patente belastet, aber dennoch nicht so weit verbreitet. Dies liegt daran, daß im Software-Sektor die Interoperabilität eine weitaus größere Rolle spielt als in anderen Branchen. Während es z.B. in der Automobil-Industrie akzeptabel ist, wenn ein Audi-Ersatzteil nicht in einen BMW paßt, hätte eine Multimedia-Software, die zwar Ogg/Vorbis, aber kein MP3 abspielen kann, auf dem Markt keine Chance.

Thomson Multimedia und die Fraunhofer-Gesellschaft kontrollieren in Gestalt von MP3 den weltweit akzeptierten de-facto-Standard für Musikkompression. Derzeit dulden die Patentinhaber großzügigerweise die Existenz kostenlos erhältlicher MP3-Abspiel-Software. 2002 war davon die Rede, dies zu ändern, was dann zwar doch nicht geschah, aber jederzeit geschehen könnte. Ein ganzer Industriezweig ist hier vom Wohlwollen des Patentinhabers abhängig.

Was das Erzeugen von MP3-Daten betrifft, greifen die Patentinhaber hart durch und verlangen Lizenzgebühren für jede MP3-Kompressions-Software. Nahezu alle Freie-Software- und Open-Source-MP3-Encoder wurden bereits wieder vom Markt genommen. Einzig LAME hat dem juristischen Druck bislang standgehalten.

Laut Aussagen der Patentinhaber sei darüberhinaus der gesamte Bereich der verlustbehafteten Audio-Kompression von den Patenten erfaßt. Dies würde auch Ogg/Vorbis mit einschließen. Eine Gerichtsentscheidung darüber steht noch aus.

Die Gesellschaft verliert.

Wir fassen zusammen:

  • Nicht die tatsächlich aufwendigen Entwicklungen wurden patentiert, sondern Trivialitäten.
  • Obwohl bessere Alternativen existieren, die die Patente umgehen, können die Patentinhaber wegen des Zwangs zur Interoperabilität den gesamten Markt kontrollieren.
  • Die Patentinhaber schließen bestimmte Marktteilnehmer – Freie Software / Open Source – gezielt vom Markt aus.

Niemand kann einem auf Gewinn ausgerichteten Unternehmen Vorwürfe machen, wenn es auf Kosten anderer Lücken in der Gesetzgebung zum eigenen Vorteil ausnutzt. Das Problem liegt im System und kann nur dort gelöst werden.

Es mag sein, daß spezielle Patente für ihre Inhaber eine gewinnträchtige Sache darstellen. Für die Software-Branche und die Gesellschaft insgesamt bedeuten Software-Patente jedoch einen wirtschaftlichen Schaden.